Vom Vater sein, ohne ein Vater sein zu dürfen
Aachen. Es ist ein Ritual. Wenn ihn Marie* besuchen kommt, geht sie zuerst durch alle Zimmer seines Hauses. Als müsse sie erst mal nachsehen, ob auch noch alles so ist, wie sie es verlassen hat. Am Ende des Rundgangs steht sie in ihrem Zimmer und lässt sich auf ihr Bett fallen. «Jetzt bin ich wieder zu Hause», sagt sie dann.
Dieser Satz tut ihm besonders weh. Denn er weiß, dass diese Worte nicht der Wahrheit entsprechen.
Nun sind schon fast wieder zwei Wochen vergangen, seitdem Mark Wiesig* seine Tochter Marie das letzte Mal gesehen hat. Er sitzt auf einer Holzbank in der Küche und blickt durch die Verandatür auf die weiten Felder des Jülicher Landes. Wenn er von Marie erzählt, wippt er manchmal mit dem Oberkörper hin und her, um vorzuführen, wie es aussieht, wenn seine zweieinhalb Jahre alte Tochter durch die Wohnung tapst. Sein Lächeln wirkt gequält. Er hat Angst, Marie zu verlieren. Seine Frau hat ihn verlassen. Seitdem teilt er sich das Sorgerecht mit ihr.
Diktatur der Mutter?
Doch was heißt geteiltes Sorgerecht schon für einen Vater? Im deutschen Rechtsstaat, der seine Bürger vor Willkür schützt, scheint es ein Vakuum zu geben, in dem es keine Gleichheit gibt, in dem kein Gesetz für Gleichheit sorgen kann. Vielen Trennungsvätern kommt es vor, als herrsche dort die Diktatur der Mutter. Denn sie bestimmt am Ende fast immer, ob ein von ihr getrennt lebender Vater das gemeinsame Kind zu Gesicht bekommt oder nicht – egal, was ein Jugendamt oder ein Familiengericht darüber denken. Mark Wiesig kämpft gegen die Furcht, aus dem Leben seiner kleinen Tochter gedrängt zu werden. Doch ihm wird deutlicher klar, dass er mit stumpfen Waffen kämpft.
Wiesig erleidet kein Einzelschicksal. Die Gemeinde der sogenannten «entsorgten Väter» ist groß und wächst. Männer, die einen zweifachen Niederschlag hinnehmen müssen, weil sie einerseits vor den Scherben einer Beziehung stehen und andererseits systematisch von ihren Kindern getrennt werden. Zig Tausende von ihnen rennen Woche für Woche zum Jugendamt und werben um die Gunst der Sachbearbeiter, streiten vor Gericht für das Sorgerecht oder versuchen bei von Mediatoren moderierten Familiensitzungen ein einvernehmliches Besuchsrecht zu vereinbaren. Doch lenkt die Mutter nicht aus freien Stücken ein, sind sie meist die Verlierer.
Jugendämter oder Familiengerichte sind für diese Väter Feindesland. Auch für Wiesig: «Als Vater bist du doch immer in der Bringschuld. Gerade das Jugendamt steht immer auf der Seite der Frau.» Nüchtern betrachtet gibt es für diese Nähe zur Mutter aus behördlicher Sicht gute Gründe. Zwar sind in den vergangenen Jahren viele Bücher über den modernen, neuen Vater, der aktiver an der Erziehung der Kinder teilhaben will, geschrieben worden. Doch einen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass dieser aktive Vater heute häufiger vorkommt als früher, gibt es nicht. So modern und gleichberechtigt viele Paare heute aufgestellt sind, fallen viele von ihnen in traditionelle Muster zurück, wenn erst mal ein Kind da ist: Die Frau kümmert sich um das Kind, während der Mann für das Einkommen sorgt – daran ändert auch eine zweimonatige Elternzeit des Mannes nichts.
Damit sind die Fronten klar, wenn es zu einer Trennung kommt. Aus eben jenem traditionellen Rollenverständnis bekommen die Mütter meist die Alltagssorge für das Kind zugesprochen. Das ist vielen Vätern auch ganz recht, weil sie gar kein Interesse an der Alltagssorge haben. So aber werden Mütter zum bevorzugten Ansprechpartner von offizieller Seite.
Das bestätigt auch Gabi Brettmacher vom Jugendamt in Eschweiler: «Unser Fokus liegt auf dem Wohl des Kindes. Die Eltern versuchen wir, gleich zu behandeln. Aus der Praxis ergibt es sich jedoch oft, dass wir in engerem Kontakt zu der Person stehen, die die Alltagssorge hat.» Kurzum: Wer die Alltagssorge hat, hält im Poker um das gemeinsame Kind alle Trümpfe in der Hand. Für Trennungsväter, die ihre Rolle aktiver wahrnehmen wollen, bedeutet das: Pech gehabt!
Aus Sicht vieler Betroffener ist die gesetzliche Gleichstellung des Vaters durch das gemeinsame Sorgerecht von theoretischer Natur, wenn die Frau die Alltagssorge hat. Denn die Mutter kann mit allerlei Tricks, wie beispielsweise vorgetäuschten Krankheiten des Kindes, das Besuchsrecht des Vaters aushebeln. «Für uns ist es in solchen Fällen unendlich schwer herauszufinden, wer objektiv betrachtet die Wahrheit sagt», erzählt Brettmacher aus dem Alltag der Jugendämter. Und deshalb versuchen sie zu schlichten. Das geht oft daneben. Denn mit dem Scheitern der Beziehung geht vielen ehemaligen Paaren der Wille zum Konsens verloren.
Wiesigs Alptraum begann vor rund einem Jahr. Als er von der Arbeit nach Hause kam, war seine Frau weg. Mit ihr die Tochter Marie, die zwölfjährige Andrea*, das Kind aus einer früheren Beziehung von Wiesigs Frau, außerdem nicht unwesentliche Bestände der Wohnungseinrichtung – wie er sagt. Zwei Tage lang wusste er nichts über den Verbleib seiner Familie. Erst mit Hilfe der Polizei fand er heraus, dass seine Frau in einem Frauenhaus war. Sie gab an, er habe sie geschlagen. Wiesig bestreitet das. Wer von den beiden die Wahrheit sagt, bleibt das Geheimnis des einstigen Paares. Das Frauenhaus untersagte Wiesig jeglichen Kontakt zu seiner Frau und damit auch zu den Kindern.
Der Schutz durch Frauenhäuser hat zweifellos viele Frauen in Deutschland gerettet. In seinem Fall sieht sich Wiesig jedoch als Gewalttäter vorverurteilt. Niemand habe sich die Mühe gemacht zu prüfen, ob seine Frau überhaupt die Wahrheit sagt. «Es hat nie eine Anzeige gegen mich gegeben. Und dennoch werde ich wie ein Krimineller behandelt.»
Als Wiesig seine Frau vor elf Jahren kennenlernte, konnte er nicht verstehen, warum der leibliche Vater von Andrea, dem Kind, das seine Frau mit in die Beziehung brachte, nichts von seiner Tochter wissen wollte. Jahre später ergab es sich, dass Wiesig mit jenem Mann ins Gespräch kam. «Er hat mir gesagt, irgendwann habe er keine Kraft mehr gehabt, um sein Kind zu kämpfen.» Erst heute wisse er, sagt Mark Wiesig, was dieser Mann gemeint hat.
Die Bemühungen, auch Andrea regelmäßig sehen zu dürfen, hat er «aus Selbstschutz» eingestellt. Rechtlich gibt es keine Handhabe, für dieses Kind, das nicht sein eigenes ist, ein Besuchsrecht zu erwirken – auch wenn es neun Jahre lang zu ihm «Papa» gesagt hat. Doch um Marie – seine leibliche Tochter – will er kämpfen.
Und das tun sie nun auch, er und seine Frau. Keine Woche vergeht ohne Scharmützel. Mal erscheint Marie nicht zur vereinbarten Besuchsübergabe, weil sie angeblich krank geworden ist. Der Kinderarzt verweigert Wiesig Informationen über den Gesundheitszustand seiner Tochter. Beim nächsten Mal darf Marie nicht zu ihrem Vater, weil er mit ihr ohne Rücksprache mit der Mutter beim Friseur war. Auch Wiesigs Frau könnte hier gewiss einiges erzählen. Doch sie will es nicht. Eine Anfrage, ob sie sich zum Sorgerechtsstreit mit ihrem Mann äußern will, blieb unbeantwortet. Das Misstrauen ist groß, gerade wenn sich Väter als Opfer in die Öffentlichkeit stellen.
Nun will Wiesig das alleinige Sorgerecht für seine Tochter vor Gericht erstreiten. Doch Familienrichter entziehen einer Frau nicht das Sorgerecht, nur weil sie sich nicht an die Besuchsregelungen hält. Für Männer in Wiesigs Situation gibt es daher eigentlich nur eine Strategie: Sie müssen das Gericht davon überzeugen, dass die Frau eine Gefahr für das Wohl der gemeinsamen Tochter ist. Jeder kann sich ausmalen, wie entsetzlich solche Verhandlungen sind. Ob an deren Ende ein Urteil stehen kann, welches der Gerechtigkeit genüge tut, muss bezweifelt werden.
Rechtliche Infos zum gemeinsamen Sorgerecht
Wird eine eheliche Lebensgemeinschaft beendet, verbleibt im Regelfall die elterliche Sorge bei beiden Eltern – es sei denn, eine der Parteien beantragt erfolgreich das alleinige Sorgerecht.
Das Familiengericht gibt diesem Antrag statt, wenn der andere Elternteil zustimmt. Es sei denn, dass Kind widerspricht dieser Regelung. Allerdings wird dem Kind rechtlich betrachtet erst ab dem 14. Lebensjahr ein Mitspracherecht eingeräumt.
Ein anderer Grund, warum das Familiengericht die Übertragung der elterlichen Sorge auf nur einen Elternteil übertragen ist, wenn die Richter zu dem Schluss kommen, dass das die beste Entscheidung für das Wohl des Kindes förderlich ist. Voraussetzung hierfür ist, dass die Eltern nicht in der Lage sind, gemeinsame Entscheidungen für das gemeinsame Kind zu treffen, weil sie zerstritten sind. Dann hat der Familienrichter zu entscheiden, welcher Elternteil die alleinige Sorge erhalten soll. Bei der Entscheidung werden auch die Bindungen eines Kindes zu einem Elternteil, die sozialen Kontakte sowie eine möglichst umfassende Beibehaltung des Umfeldes des Kindes berücksichtigt.
Steht den Eltern gemeinsam das Sorgerecht zu, so trifft dennoch derjenige Elternteil, bei dem sich das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung aufhält, die Entscheidungen für das Kind in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Als Angelegenheiten des täglichen Lebens gelten: Schulalltag, Anmeldung zu einem Nachhilfeunterricht oder Sportverein, Essensfragen, Fernsehkonsum, Kleidung, Umgang mit Freunden, Besuch von Sport- oder Kulturveranstaltungen, die gewöhnliche medizinische Versorgung, Taschengeld und alle anderen häufig vorkommenden Situationen, die Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben, aber ohne Aufwand wieder veränderbar sind.
Das gemeinsame Sorgerecht findet nur Anwendung in Angelegenheiten, deren Regelungen für das Kind von erheblicher Bedeutung sind, und die nur mit hohem auf Aufwand oder gar nicht mehr verändert werden können. Diese sind: Schulwechsel, Umschulung, Berufswahl, Wechsel des Kindes in ein Heim oder Internat, Taufe oder schwere medizinische Eingriffe.
(*alle Namen geändert)
Quelle: Aachener Zeitung