Buchtipp: Der alte König in seinem Exil
Die Reise ins Vergessen. In einem bewegenden Buch erzählt Arno Geiger von seinem demenzkranken Vater. Demenz ist die Krankheit der alternden Gesellschaft. Jahrelang hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger zusehen müssen, wie sein Vater langsam der Wirklichkeit abhanden kam. Nächste Woche erscheint «Der alte König in seinem Exil» – sein berührendes, zutiefst humanes Buch über einen Menschen, der Würde und Lebenswillen bewahrt, während die geistigen Kräfte allmählich schwinden.
«,Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin?‘ Die Frage macht ihn verlegen, er wandte sich zu Katharina und sagte scherzend mit einer Handbewegung in meine Richtung: ,Als ob das so interessant wäre.‘» Der Dialog hat etwas Komisches und tief Trauriges zugleich. Der Sohn spürt, dass der Vater ihn nicht mehr erkennt. Aber auch der alte Mann empfindet ein Unbehagen. Er vermag auf die Frage keine sinnvolle Antwort mehr zu geben und weicht in seiner Verwirrung auf eine Antwort aus, die dennoch nicht vollkommen abwegig ist. —
Ähnliche Szenen beschreibt Arno Geiger (Deutscher Buchpreis 2005 für «Es geht uns gut», zuletzt «Alles über Sally») immer wieder. Der Vater fällt zunehmend aus der Wirklichkeit. Er findet sich nicht mehr zurecht, verliert die Orientierung. Er weiß nicht mehr, wo er ist. Seine Uhr geht anders. Seine Gewohnheiten gibt er auf. Er beginnt, in einer eigenen Welt zu leben, von der es oft keine Brücken mehr in die Realität der Mitmenschen gibt. Er verändert sich: Aus dem gutmütigen, freundlichen Mann wird ein bisweilen mürrischer Kauz, der seine Umgebung mit barschen Reaktionen vor den Kopf stößt. Die Familie leidet, vor allem psychisch. Der Vater wird zunehmend fremd und ist manchmal doch noch der Vertraute. Schleichend hatte das begonnen, um 1995, kaum merklich. Ein bisschen vergesslich war er geworden – das Alter eben. Viele Jahre später weiß die Familie keinen anderen Ausweg – mit schlechtem Gewissen: August Geiger kommt in ein Pflegeheim.
August Geiger war stets ein vitaler Mann: 1926 in dem kleinen Ort Wolfurt (Voralberg) geboren, das dritte von zehn Kindern, die Eltern Kleinbauern – ein paar Kühe, Acker, Obstgarten, Bienenstöcke. Mit 18 muss er in den Krieg, an die Ostfront. Gefangenschaft. Krankheit. Lazarett. Rückkehr in die Heimat. Er arbeitet bei der Gemeinde. Baut sich ein Haus. Er heiratet, bekommt Kinder. August Geiger will nie wieder fortgehen. Kleine Spaziergänge genügen ihm.
Erst als alter Mann wird er keine Heimat mehr haben. Voller Unrast will er immer nur nach Hause – obwohl er sein Heim doch nie mehr verlassen hat. «Und erst Jahre später begriff ich, dass der Wunsch, nach Hause zu gehen, etwas zutiefst Menschliches enthält. Spontan vollzog der Vater, was die Menschheit vollzogen hatte: Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort des Trostes nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich», schreibt Geiger (Jahrgang 1968).
«Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm»: Und so begegnet der Junge dem Alten ganz neu. Er begleitet ihn in den Garten, lauscht seinen Worten, die in ihrer surrealen Poesie einen ganz eigenen Zauber haben. Einmal reicht die Betreuerin dem Vater den Hut. «Das ist recht und gut», sagt er, «aber wo ist mein Gehirn?» «Dein Gehirn ist unter dem Hut», ruft ihm der Sohn zu. «Das wäre aber ein Wunder», erwidert August. Liebevoll beschreibt Geiger, wie der Vater in seiner Verwirrung ebenso kuriose wie verblüffende Zusammenhänge herstellt. Doch ins Heitere mischt sich das Schwere und Trostlose. Der Sohn sieht den einst starken Vater schwächer werden. Voll Trauer und Mitgefühl muss er dessen Vertreibung aus dem eigenen Bewusstsein mitansehen, in eine Welt, in der die Dinge kreisen – Tote, Lebende, traumartige Halluzinationen, Satzfetzen. Der Verfall ist schwer zu ertragen, und dennoch bleibt der «König im Exil» ein König, ein geliebter König. Bereits Tilman Jens hat ein eindringliches Buch über die Demenz seines Vaters, des früheren Tübinger Rhetorik-Professors Walter Jens, geschrieben. Arno Geiger nähert sich dem eigenen mit Zärtlichkeit und Respekt, mit Respekt auch vor der Krankheit. Noch im Zerfall der Persönlichkeit findet er die Würde eines langen Lebens. Bücher wie die von Jens und Geiger rühren an Tabus, die in einer alternden Gesellschaft längst keine mehr sind: Das Schicksal ihrer Väter könnte unseres werden. Arno Geigers Bericht ist ein großartiges Werk der Menschlichkeit, klug, einfühlsam, tröstlich und zum Schmunzeln. Obwohl es die Momente der Verzweiflung nicht ausspart, ist es voller Lebensmut. Ein kranker Mensch bleibt ein wertvoller Mensch, der Achtung und Zuneigung verdient. Ein Buch über das, was wirklich wichtig ist.
Arno Geiger «Der alte König in seinem Exil», Hanser-Verlag München, 189 Seiten, 17,90 Euro
Quelle: Frankfurter Neue Presse